Interview "Der Bergsteiger" (Heft März 2000) mit Christof Schellhammer (Bergführer bei Vivalpin) am 18.01.2000

Gemessen an den Schlagzeilen rangiert das Lawinenunglück im Jamtal weit hinter der Everest-Katastrophe vor 3 ½ Jahren, obwohl mehr Opfer zu beklagen sind. Immer mit dabei: Bergführer. Verleitet langjährige Erfahrung zu Leichtsinn? Geht, je besser man objektive Gefahren einschätzen kann, der Blick für deren Unberechenbarkeit verloren?

Ich bin seit 1984 als Profi-Bergführer tätig. Aufgrund meiner eigener Erfahrung kann ich nur feststellen, daß eine langjährige Berufspraxis als Bergführer in keiner Weise dazu führt, alpine Gefahren zu unterschätzen oder das Gefühl für Gefahrensituationen zu verlieren - ganz im Gegenteil. Mit jedem Profijahr habe ich neue Erfahrungen gewonnen und dabei auch immer wieder die Schwierigkeiten bei der Einschätzung der alpinen Gefahren feststellt. Dies führt zwangsläufig zu einer ständig zunehmenden Sensibilisierung gegenüber alpinen Gefahren. Meine Erfahrungen versuche ich stets nach besten Kräften im Interesse meiner Kunden, aber natürlich auch im Interesse meiner eigenen Sicherheit einzubringen.

Daß eine langjährige Erfahrung als Bergführer zu einer erhöhten Risikobereitschaft oder zu einer schlechten Fähigkeit zur Gefahreneinschätzung führt, habe ich auch bei keinem einzigen Bergführerkollegen feststellen können. Die Praxis zeigt vielmehr eindeutig, daß Profi-Bergführer immer vorsichtiger und risikobewußter arbeiten, je länger sie den Beruf ausüben.

Für eine solche Verhaltensweise gibt es auch eine ganz einfache Erklärung. Ein Schneebrett kann nicht unterscheiden, ob ein Teilnehmer oder der Bergführer selbst den Hang betreten. Der Bergführer ist deshalb auch stets den selben Risiken ausgesetzt wie der Gast, den er führt. Aus vitalem Eigeninteresse wird sich deshalb der Bergführer immer um eine optimale Gefahreneinschätzung bemühen. Wer einem Bergführer anläßlich eines Unfallereignisses leichtsinniges Verhalten vorwirft, erklärt doch damit zugleich, daß er den Bergführer für unfähig einschätzt, sein Beruf vernünftig auszuüben. Mir ist aber kein konkreter Bergführerunfall bekannt, bei dem nach genauer und vor allem emotionsloser Aufarbeitung des Unfallereignisses auch nur im Ansatz festgestellt wurde, daß der Bergführer leichtsinnig oder leichtfertigt gehandelt hat.

Folgt man manchen Presseaussendungen von Bergschulen/Trekkingveranstaltern, so bemisst sich Erfolg offenbar an der Zahl der "Gipfelsieger" bzw. an der Zahl der erfolgreich durchgeführten Touren. Gibt es da Druck auf die Führer?

Auch hier kann ich aus eigener Erfahrung sprechen, da ich seit 1985 eine eigene Bergsteigerschule betreibe. Ein Veranstalter wird nie Druck auf seine Bergführer ausüben. Natürlich ist es für die Teilnehmer schön, wenn eine Tourenwoche auch zu entsprechenden Gipfelerfolgen führt. Die Sicherheit des Kunden steht aber immer an allererster Stelle. Was geht und was nicht, kann immer nur der Bergführer vor Ort unter Berücksichtigung aller Umstände entscheiden. Er hat deshalb immer die alleinige Beurteilungs- und Entscheidungskompetenz.

Andersrum gefragt: Bewerten Veranstalter von Führungstouren ihre Bergführer nach der Erfolgsrate? Haben vorsichtige Führer weniger Chancen, engagiert zu werden?

Die Sicherheit des Kunden hat absoluten Vorrang. Gipfelerfolge sind dagegen eindeutig zweitrangig. Nur ein vorsichtiger Führer ist deshalb für eine Bergsteigerschule auch ein guter Führer. Ich kenne keinen Bergführer, der nicht mehr beauftragt wurde, weil er in der Vergangenheit zu vorsichtig gewesen sein soll.

Im Jamtal waren die drei Bergführer auf der sicheren Seite - 13 Geführte waren verschüttet, 9 davon tot. Waren die Geführten Genasführte?

Einzelheiten zum Unfall auf der Jamtalhütte sind mir leider nicht bekannt. Nach den mir vorliegenden Informationen wird der Unfall derzeit von mehreren Sachverständigen untersucht. Man wird deshalb zunächst das Ergebnis dieser Untersuchungen abwarten müssen. Da ich die Unfallstelle auch nicht persönlich gesehen habe, kann ich auch keine Stellungnahme zu dem Unfall abgeben.
Eine allgemeine Anmerkung zur Problematik der Einschätzung der Lawinengefahr möchte ich allerdings machen. Der Bergführer geht immer voraus. Er betritt eventuell gefährliche Passagen als erster, testet und beurteilt kritische Hänge, bevor die einzelnen Teilnehmer nachkommen. Erst wenn dem Bergführer ein Hang oder eine Passage nach sorgfältiger Prüfung als sicher erscheinen, läßt er seine Kunden nachkommen. Dieser führungstechnisch zwingende "Selbstversuch" unter Einsatz seines eigenen Lebens ist für den Kunden die absolute Gewähr dafür, daß sich der Bergführer nach besten Kräften um eine umfassende Gefahreneinschätzung bemüht. Kein Bergführer wird sich selbst unnötig oder gar wider besseren Wissens in Gefahr begeben. Dafür gibt es nicht einmal im Ansatz einen erkennbaren, vernünftigen und auch nachvollziehbaren Grund. Diese Überlegung wird nach meiner Einschätzung im Zusammenhang mit Vorwürfen, die derzeit gegenüber den am Jamtalunfall beteiligten Bergführern erhoben werden, völlig außer acht gelassen.

Die staatlich geprüften Bergführer erwecken den Eindruck, nicht staatlich geprüften viel voraus zu haben. Aber gibt es in der Ausbildung etwas, was Bergführer befähigen könnte, mit Kunden umzugehen, die auf Teufel komm raus die bezahlte Tour machen wollen?

Die staatliche Bergführerausbildung ist eine sehr anspruchsvolle, komplexe Ausbildung, die 4 bis 5 Jahre dauert. Mit dieser Ausbildung soll ein allgemeiner Qualitätsstandard im Bereich der Führungstechnik und Führungstaktik mit den damit zusammenhängenden Problemkreisen wie der Einschätzung von alpinen Gefahren, Wetterrisiken etc. sichergestellt werden. Im Rahmen der Theorieausbildung werden die Bergführeranwärter auch mit psychologischen Problemstellungen, insbesondere mit gruppendynamischen Prozessen, vertraut gemacht.

Die Bergführerausbildung kann aber aus naheliegenden Gründen nicht zugleich ein staatlich geprüfter Befähigungsnachweis in angewandter Psychologie sein. Mit den psychologischen Problemstellungen des Bergführerberufes muß sich jeder Profi-Bergführer selbst auseinandersetzen und seine eigenen Lösungsmuster finden. Dabei entwickelt erfahrungsgemäß jeder Profi-Bergführer im Laufe der Berufsausübung seinen eigenen Stil, der seiner individuellen Persönlichkeit gerecht wird.

In diesem Zusammenhang muß man auch berücksichtigen, daß ein Profi-Bergführer praktisch täglich mit der Problematik konfrontiert ist, Einzelpersonen oder Gruppen zu führen, sie zu überzeugen und gegebenenfalls auch Entscheidungen oder Anordnungen gegen den Widerspruch von einzelnen Teilnehmern durchzusetzen. Im psychologischen Bereich gilt deshalb der Grundsatz "Learning by doing". Wer es als Bergführer nicht auf Dauer schafft, mit den zwangsläufig verbundenen psychologischen Anforderungen des Berufes zurechtzukommen und sich gegenüber seinen Kunden durchzusetzen, wird erfahrungsgemäß diesen Beruf schnell wieder aufgeben.

Das im Zusammenhang mit den Jamtalunfall gelegentlich angesprochene Problem des Gruppendrucks wird außerdem nach meinen Erfahrungen deutlich überschätzt. Der Bergführer besitzt aufgrund seiner überragenden Fachkompetenz praktisch immer und automatisch die absolute Autorität mit der Folge, daß seine Entscheidungen akzeptiert werden, wenn auch vielleicht der eine oder andere Teilnehmer einmal enttäuscht sein mag. Natürlich wird es vereinzelt Teilnehmer geben, die versuchen werden, den Bergführer zu einer höheren Risikobereitschaft zu überreden - ohne zugleich selbst die Verantwortung übernehmen zu können und zu wollen. Ein erfahrener Profi wird aber keine Probleme haben, einen solchen Kunden in seine Schranken zu weisen, wobei er im übrigen dabei im Regelfall erfahrungsgemäß vom Rest der Gruppe unterstützt wird, sich also gruppendynamische Prozesse selbst zu nutzen machen kann.

Wer ist der Chef - der Veranstalter oder der Bergführer? Und wie löst man den Konflikt, wenn einer beides ist?
Alle sicherheitsrelevanten Entscheidungen vor Ort trifft ausschließlich und alleine der Bergführer. Der Veranstalter ist nur für den organisatorischen Rahmen zuständig. Alle mir bekannten Bergsteigerschulen arbeiten nach diesem klaren Trennungsprinzip. Aufgrund dieser eindeutigen und branchenüblichen Aufgabenverteilung kann ich keine Anhaltspunkte für einen möglichen Konflikt zwischen Veranstalter und Bergführer erkennen.
Bei einer Identität von Veranstalter und Bergführer kann ein Konflikt schon denklogisch nicht entstehen.

Lawinenwarndienste, immer detailliertere Wetterprognosen, teure Prospekte der Veranstalter, Diplome: all das erweckt den Eindruck, man habe das Gebirge unter Kontrolle. Sollte man nicht umgekehrt verfahren: Das Gebirge ist gefährlich, aber wir können versuchen, hier zu überleben?
Ich habe nicht den Eindruck, daß wir Bergführer glauben, das Gebirge unter Kontrolle zuhaben oder daß wir unseren Kunden diesen Eindruck vermitteln. Wir bemühen uns aber nach besten Kräften, alpine Risiken sachgerecht einzuschätzen und zu vermeiden, um damit unsere Kunden so sicher wie möglich zu führen.

Jeder Bergführerkunde sollte sich aber darüber im klaren sein, daß auch in Begleitung eines Bergführers die Ausübung des Bergsportes mit Restrisiken verbunden ist, die trotz sorgfältigster Tourenplanung und Tourendurchführung nicht vollständig ausgeschlossen werden können. Dies unterscheidet das Bergsteigen eindeutig von anderen Sportarten. Auf dieses Restrisiko müssen Bergführer und Bergsteigerschulen zukünftig wohl noch deutlicher hinweisen.

Aber auch die einzelne Bergführerkunde sollte sich noch mehr als bisher mit dem geplanten Unternehmen und der damit zusammenhängenden alpinen Problemstellung auseinandersetzen, die ihn auch in Begleitung eines Bergführers erwartet. Die Begleitung eines Bergführers entbindet den Kunden leider nicht von der Notwendigkeit, eine seinen Fähigkeiten entsprechende angemessene Tourenauswahl zu treffen und sich eigenverantwortlich mental auf die geplante Tour vorzubereiten. Eine solch sachgerechte Einstimmung und Vorbereitung auf das geplante Unternehmen erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern erfahrungsgemäß auch die Freude am Bergerlebnis selbst.

Durch diese Forderung soll nicht etwa die Verantwortung vom Bergführer auf den Kunden ganz oder teilweise abgewälzt werden. Beim Kunden muß aber ein verstärktes Bewußtsein dafür entwickelt werden, daß auch und vor allem im Bereich des Bergsports absolute Sicherheit nicht käuflich ist, auch wenn sich ein verantwortungsbewußter Bergführer selbstverständlich nach besten Kräften darum bemühen wird.
 

Christof Schellhammer
18.01.00