Urteil des OGH vom 15.3.1971 - Österreichische Richterzeitung 1971, 172

§ 335 StG. (Zur Frage der Fahrlässigkeit bei der Besteigung eines lawinengefährlichen Berges im Winter mit Schiern durch eine Abteilung des Bundesheeres.)

Nach der herrschenden Rechtslehre und Praxis liegt der Schuldvorwurf bei Fahrlässigkeit stets darin, daß der Täter nicht genügend darauf bedacht ist, das tatbestandsmäßige Unrecht zu vermeiden (Kadecka, ,,Das Wesen der Fahrlässigkeit", neu abgedruckt in Nr.5 der ,,Gesammelten Aufsätze" 5.66 ff.), vielmehr aus Nachlässigkeit oder mangelnder Rücksichtnahme auf strafrechtlich geschützte Rechtsgüter es unterläßt, die Vorstellung von der Unge- [S. 173] fährlichkeit seines Verhaltens im konkreten Fall auf ihre Richtigkeit zu prüfen (Rittler 12 5. 216, EvBl. 1967 Nr. 394, ZVR. 1969 Nr. 241 u. a. m.). Nicht der Irrtum über die Ungefährlichkeit, sondern die Nachlässigkeit, infolge deren es vom Täter unterlassen wurde, die Vorstellung von der Ungefährlichkeit auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, begründet die strafrechtliche Verantwortung (ZVR. 194 Nr. 108 u. a. m.). Der Tatbestand des § 335 StG. besteht darin, daß der Handelnde fahrlässig eine Gefahrenquelle schafft, wobei das Eintreten von Objekten in ihren Bannkreis nach objektivem Urteil nicht ausgeschlossen werden kann (Nowakowski, 5.142, Stooß, S. 292, 295, RZ. 1967 S.198 u. a. m.).

Nun hat das Urteil festgestellt, daß der 3 005 m hohe Zischgeles schon nach dem Skiführer der Stubaier Alpen nicht als lawinensicher gilt. Tatsächlich sind insbesondere vom Gipfelhang dieses Berges in den letzten Jahren mehrmals, zuletzt (wie beiden Angeklagten bekannt war) einen Monat vor der gegenständlichen Tour Lawinen abgegangen. Der gegenständliche Steilhang, den die beiden Angeklagten mit den ihnen anvertrauten Soldaten überquert haben, gehört mit einer Neigung zwischen 25 und 33 Grad zu den steilsten Geländepartien dieses Gebietes und kann schon deshalb allein keinesfalls als lawinensicher angesehen werden. Eine zumindest latente Lawinengefahr konnte daher bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit, die von einem sich der Pflichten gegen die Mitwelt bewußten Menschen durchschnittlich verlangt werden kann und muß, nach objektivem Urteil nicht ausgeschlossen werden. Dazu kam, daß für die beiden Angeklagten die wesentlichen allgemeinen Voraussetzungen für die Überprüfbarkeit einer Lawinengefahr fehlten, weil sie weder die Meldungen des Lawinenwarndienstes noch die Wettervorhersage kannten, auch bei den Einheimischen keine Erkundigungen eingezogen hatten und überdies die Abbruchstelle der alten Lawine nicht erkennen konnten. Deshalb war es für sie erforderlich, den sonstigen vorhandenen und sichtbaren Verhältnissen Rechnung zu tragen; denn gerade diese, nämlich vor allem die Steilheit des Hanges knapp unter dem Gratrücken, der am letzten Tag gefallene Neuschnee von 10 bis 15 cm und die durch die Windverhältnisse bewirkte Schneeverfrachtung durfte nach der zutreffenden Urteilsannahme die beiden Angeklagten bei pflichtgemäßer Sorgfalt nicht in die Vorstellung verfallen lassen, daß eine Lawinengefahr absolut auszuschließen ist. Die Fehleinschätzung der Situation ist daher unter den gegebenen Verhältnissen auf schuldbare Nachlässigkeit zurückzuführen, zufolge welcher sie es unterlassen haben, zumindest ein lawinengemäßes Verhalten der ihnen anvertrauten Soldaten beim Überqueren des ungesicherten Steilhanges vorzuschlagen und anzuordnen.

Schuldhaft im Sinn des § 335 StG. handelt jedenfalls, wer eine der in dieser Gesetzesstelle erwähnten Gefahren rechtswidrig herbeiführt oder vergrößert, obgleich er schon nach den natürlichen, für jedermann leicht erkennbaren Folgen seines Verhaltens oder nach besonders bekanntgemachten Vorschriften oder nach seinem Berufe, seiner Beschäftigung oder überhaupt seinen besonderen Verhältnissen diese Gefahr vorauszusehen vermochte. Die Erkennbarkeit der Gefahr im konkreten Fall hat aber das Erstgericht zutreffend vor allem für die beiden Angeklagten im ganz besonderen Maße als gegeben erachtet, weil sie durch spezielle Ausbildung und Kurse als geprüfter Heeresalpinist bzw. als geprüfter Bergführeranwärter mit Alpinerfahrung im Winter besonders für die Bewegung im Hochgebirge befähigt sind und ihre Ausbildung und Erfahrung weit über dem Durchschnitt liegen. Das Urteil hat daher zutreffenderweise sowohl eine Sorglosigkeit, mit der die beiden Angeklagten glaubten, der Hang sei nicht lawinengefährdet, angenommen als auch eine ihnen nach ihrer Ausbildung und den gegebenen Umständen zumutbare Einhaltung des Maßes der pflichtgemäßen Prüfung ihrer Vorstellung von der Ungefährlichkeit des Wiedereinstiegs in den Steilhang und des dabei einzuhaltenden Maßes der gebotenen Vorsicht. Es machte ihnen somit ohne Rechtsirrtum zum Vorwurf, daß sie es unterließen, zumindest dafür zu sorgen, daß sich die ihnen anvertrauten Soldaten in dieser Situation bei der Hangüberquerung lawinengemäß verhalten, und stellte in diesem Zusammenhang überdies noch einwandfrei fest, daß, wenngleich das Abgleiten einer Lawine und das Mitreißen eines Menschen nicht absolut auszuschließen gewesen wäre, durch das nicht lawinengemäße Verhalten der Gruppe die Gefahr jedenfalls erheblich erhöht und der Tod zweier Soldaten sowie die konkrete Gefährdung zweier weiterer gleichfalls im unmittelbaren Gefahrenbereich befindlicher Soldaten verursacht wurde.

Beigefügt sei, daß der Nachweis einer Verletzung von Dienstvorschriften keineswegs notwendige Voraussetzung des Schuldspruches eines Täters sein muß, weil auch die anderen im § 335 StG. angeführten Umstände die erforderliche Einsicht in die Gefährlichkeit einer Handlungsweise vermitteln können. Es hat aber jedermann sein Verhalten im Einzelfall auch unter den in für ihn geltenden Dienstvorschriften angeführten Gesichtspunkten auf seine Gefährlichkeit zu prüfen. Die Dienstvorschriften stellen ihrer Natur nach das Maß der Sorgfaltspflicht auf das einzelne Unternehmen ab; durch sie kann aber im übrigen die Vorhersehbarkeit von Gefahren niemals rechtswirksam eingeschränkt, sondern immer nur erweitert werden (RZ. 1966 S. 117/118, EvBl. 1967 Nr. 394 u. a. m.).

Abschließend ist darauf zu verweisen, daß nach dem Sachverständigengutachten schon auf Grund bestehender militärischer Vorschrift (Beilage zum Erlaß Nr. 373.232-GTI/Ap II/65) bei nicht sicherer Feststellbarkeit, ob ein Hang - oder ein Weg - als sicher oder als gefährlich zu betrachten ist, der Hang jedenfalls als verdächtig zu gelten hat und daß daher das in diesem Erlaß umschriebene lawinengemäße Verhalten hätte angeordnet werden müssen. Denn wie jede unklare Verkehrssituation stets im bedenklichen Sinn auszulegen ist, so erfordert auch eine Situation, in der eine akute Lawinengefahr zwar nicht ohneweiters erkennbar, eine latente Lawinengefahr aber keineswegs mit Sicherheit auszuschließen ist, sowohl bei dem militärischen als auch bei dem alpinen Führer einer Skitour von Soldaten, insbesondere wenn dabei Dienstvorschriften nicht eingehalten werden, schon nach dem Ingerenzprinzip eine umso größere Vorsicht und damit zumindest die Anordnung eines lawinengemäßen Verhaltens, durch das alle, wenngleich vorerst nur hypothetischen Gefahrenmomente verringert oder ausgeschaltet werden. Setzten sich die Angeklagten unter den gegebenen Umständen über solche, wenngleich nur interne militärische Dienstvorschriften hinweg, ohne diese Eigenmächtigkeit durch umso größere Vorsicht und irgendeine andere von ihnen getroffene Anordnung wieder auszugleichen, so vermochten sie schon deshalb allein die von ihnen herbeigeführte und vom Erstgericht zutreffend angenommene Gefahrenvergrößerung im Sinn des § 335 StG. auch vorherzusehen.

Daß von einem geprüften Heeresalpinisten und von einem geprüften Bergführeranwärter, selbst wenn ihre Ausbildung nach den modernen Erkenntnissen unzureichend war, bei Überqueren eines Steilhanges im Hochgebirge, auch wenn akute Lawinengefahr nicht zu erkennen, aber latente Lawinengefahr nicht absolut auszuschließen ist, zumindest die Anordnung eines lawinengemäßen Verhaltens der ihnen anvertrauten Gruppe verlangt werden kann und muß, ist eine Selbstverständlichkeit. Die schuldhafte Verletzung dieser ihnen obliegenden Sorgfaltspflich-ten macht die beiden Angeklagten daher strafrechtlich verantwortlich.

(OGH., 15.3.1971, 9 Os 128/70.)