Hermann von Barth [Zum Vergrößern anklicken]Hermann von Barth:

Im Roßloch.

(Grubenkarspitze, Dreizinkenspitze, Laliderer Wand und Spitze, Bockkarspitze).

(ursprünglich im Alpenfreund 1875 veröffentlicht, abgedruckt in den Gesammelten Schriften des Freiherrn Hermann von Barth, München, 1926, S. 789 ff.)
Wenn ich heute die Feder ergreife, um den Lesern des ,,Alpenfreund" die Schilderung einer vor manchen Jahren unternommenen Bergwanderung vorzuführen, so geschieht dies in der Absicht, der Reihenfolge meiner früheren, teils zerstreuten, teils in Gruppen vereinigten Abhandlungen über das Karwendel-Gebirge gewissermaßen einen Schlußstein einzusetzen. Ich wünschte in der noch so unvollständigen Literatur über die Nördlichen Kalkalpen wenigstens eine Lücke ausgefüllt zu wissen, welche, wie mir scheint, eine der am schwersten empfundenen ist, oder doch, bei genauerer Kenntnis dieser Gebirge, es werden könnte. Nicht ein einzelner, hervorragender Gipfel ist es, dessen Besteigung zu erzählen diesen Zeilen zur Aufgabe fällt; eine lange Kette von unbekannten Felsenzinnen, ein Knotenpunkt hervorragendsten Ranges, ein wahres Herz einer Gebirgsgruppe soll hier seine orographische Beschreibung und seinen Wegweiser erhalten für etwaige künftige Besucher.
Ich darf bei meinen Lesern vielleicht bereits einige Kenntnis der orographischen Strukturverhältnisse im Quellengebiete der Isar voraussetzen, wie ich dieselbe in früheren Abhandlungen zu wiederholten Malen dargelegt habe: des Gebirgsaufbaues in langgestreckten Parallelketten, zwischen welchen die östlichen Quellentäler der Isar einer-, einige Seitentäler des Inn andererseits verlaufen. Die Wasserscheide zwischen ihnen bilden Joche von größerer oder geringerer Erhebung, stets jedoch niedriger als die Hauptkämme, welche - unbekümmert um die hydrographische Grenze - ununterbrochen von West nach Osten streichen. Die Joche bilden entweder einen einfachen, zwischen die Gipfelreihen der beiderseitigen Hauptkämme eingesenkten Bergsattel, so an der Hochalpe zwischen dem Karwendel- und Johannestale, oder selbst wieder eine gipfeltragende Felsenkette, wie der Kamm des Roßkopf, welcher die dritte mit der vierten Parallelkette verbindet und am Stempeljoch den Übergang aus dem Gleirsch- ins Halltal gestattet; - oder endlich die Querkette biegt, ohne den nächsten Hauptkamm zu berühren, wieder um, und wird zu einer neuen Parallelkette, welche die Bildung sekundärer Längetäler veranlaßt. Das letztere ist zwischen der zweiten und dritten Parallelkette, dem Hinterau-Vompertaler und dem Gleirsch-Halltaler Kamme der Fall.
Die Hinterautaler Kette, welche im Ödkar- und Birkkarspitz die bedeutendsten Gipfelpunkte im Isar-Quellengebiete und - mit einziger Ausnahme des Großen Bettelwurfes im Halltale195 [Fn.: Irrtum Barths. Birkkarspitze (2756 m), Ödkarspitze (2747m) und Kaltwasserkarspitze (2734 m) sind höher als der Bettelwurf.] - der ganzen Karwendelgruppe [S. 790] trägt, erfährt, fast gleichzeitig mit dem Tale, dessen Nordrand sie begleitet, und dessen Namen sie trägt, einen gewissen Abschluß, welcher die Fortsetzung ihres Kammes als ein in mancher Hinsicht für sich abgesondertes Glied betrachten läßt. Das Hinterautal als solches schließt auf der Talebene ,,Am Kasten" -wo eine dürftige Alpe und ein stattliches, dem Fürsten Hohenlohe gehöriges Jagdhaus sich befindet - ab; als ein mächtiger Felsenpfeiler bricht das Ende des Suntiger-Kammes auf die Talsohle nieder, links davon öffnet sich die Pforte eines engen, öden Tälchens, dessen Hintergrund ein Wall steiler Mauern sperrt, gekrönt von den gleichen Gipfeln, welche man draußen bei der Scharnitz und während der Wanderung durch das Hinterautal herauf in rätselhafter Ferne schimmern sah.
Es ist das Roßloch, die geradlinige und ununterbrochene Fortsetzung des Hinterautales, im orographischen Sinne das eigentliche Quellental der Isar. Rechts vom Suntiger erhebt sich eine hohe, von Wald und Krummholz nur teilweise überkleidete Bergstufe, durchspalten von finsterer Klamm, aus welcher der Lafatschbach, die wasserreichste Quellader der Isar, herausgestürmt kommt; zur trockenen Jahreszeit verliert er sich wohl noch einmal im Schutte des Talbodens, und daher rührt es denn, daß auf den Karten der Isar-Ursprung mitten ins Hinterautal verlegt wird.
Oberhalb dieser Bergstufe zieht das breite, von mehreren Alphütten besiedelte Lafatschtal sich hin. In sehr geringer Steigung kulminiert seine breite Sohle am sogenannten ,,Überschall" hinter dein Haller Anger, von wo aus ein steileres Gehänge zur düsteren Tiefe des Vomper Lochs sich absenkt. Andererseits vermittelt das gut gangbare Lafatscher-Joch die Verbindung mit dem Halltale und nach dem Inn hinaus.
Die Hinterautaler Kette drängt ihre langen Strebepfeiler - die Zweiggrate des Breitgrieskar-, des Seekarspitzes, die vom Ödkarspitz ausgehenden Birkköpfe, die mit dem Heißenkopf endigenden Ausläufer der Kaltwasserkarspitze und endlich die Sonnenspitzen -weit ins Hinterautal herein, und veranlaßt dadurch die Bildung ziemlich beträchtlicher Nebentäler, während die Gipfel des Hauptkammes sehr weit gegen Norden abgerückt sind und von der Talsohle aus nur selten wahrnehmbar werden. Am ,,Kasten" fällt vorzugsweise der mit stahlgrauen Platten gepanzerte, dreieckförmige Absturz des Heißenkopfes in die Augen, welcher zwischen dem Birk- und dem Moserkare sich erhebt. Taleinwärts sperren die breiten Grundmauern der Sonnenspitzen fast die ganze Breite der bisherigen Talsohle und, an das Fundament des Suntiger anstoßend, bilden sie die eigentliche Eingangspforte zum Roßloch.
Auf dem langen, zahnigen Grate seines Scheitels trägt das Massiv der Sonnenspitzen zwei Gipfel, deren nördlicher - ein plumper, runder Kopf mit drei fast senkrechten Absturzseiten - die prachtvolle Turmgestalt bildet, welche aus ihrer schwindelnden Höhe, über unangreifbaren Wänden thronend, so stolz auf das Talbecken von Ladiz hinunterschaut. Dieser Nördliche Sonnenspitz steht im Hauptkamme; der durch eine lange, zerrissene Felsschneide mit ihm verbundene Südliche Sonnenspitz dagegen in dem das Moserkar vom Roßloch trennenden [S. 792] Nebenkamme. Es ist dies einer der zwei einzigen Ausnahmefälle von der sonst im Karwendel geltenden Regel, daß kein Punkt eines Zweiggrates den Abschnitt des Hauptgrates, welchem er zugehört, an Höhe übertrifft.
Die Sonnenspitzen sind orographisch noch als zur Umwallung des Moserkars gehörig zu betrachten; ihr östlicher Absturz aber stellt seinen Fuß bereits in das Bockkar, das westlichste der kleinen, hochgelegenen Schuttäler im Roßloch, und der Nördliche Sonnenspitz kann als der nordwestliche Grenzpfeiler des letzteren angesehen werden.
Der Hauptgrat, welcher in seinem weiteren, östlichen Verlaufe einerseits den Rand der hügeligen Terrassen und flachen Kare des Roßlochs umsäumt und dessen Gipfelzinnen - aus dieser Richtung gesehen - nur wenig bedeutende, großenteils schuttbedeckte Erhebungen darstellen, andererseits dagegen mit seinen gewaltigen, über 1000 m hohen Steilwänden auf den Talboden von Laliders hinunterstürzt, erfährt vom Nördlichen Sonnenspitze ab zunächst eine bedeutende Depression; aus ihm erhebt sich - nahe dem Sonnenspitz und gewissermaßen noch als ein Anhängsel des letzteren erscheinend - der krumme Kegel des Bockkarspitzes, dann folgt die lange Kette der eigentlichen Roßloch-Spitzen - welche wir in der Folge genauer werden kennen lernen - und der allmählich wieder höher aufgestiegene Grat schließt die Reihe seiner Gipfel mit dem breitgeschichteten, zwei wenig ausgeprägte Kulminationspunkte tragenden Felsmassive des Grubenkarspitzes.  Bereits auf dem Scheitel des letzteren fängt der Grat an, gegen Südosten sich abzukrümmen, und die Absenkung von dem zweiten und höchsten Gipfel läuft fast gerade gegen Süd.
[Im Bild die Roßlochspitze (2538 m, links) und Hochkanzel (2574 m, rechts)]. Durch tiefen Scharteneinschnitt vom Grubenkarspitze abgetrennt, erhebt sich in der Mitte des Grates, welcher den Hintergrund der weiten Hügelfelder und Schuttbecken des Roßkars sperrt, eine hübsche, fast gleichseitige Pyramide, deren regelmäßige Gestalt während der Wanderung durch das Hinterautal schon in die Augen fallen mußte: es ist der ,,Roßkarspitz" - so wenigstens benannte ich ihn seiner Stellung entsprechend, und wenn in der Karwendel-Gruppe meine selbstgeschaffene Nomenklatur häufig genug die Lücken und Unsicherheiten der ortsüblichen ergänzen muß, so ist sie im Gebiete des Roßlochs fast das einzige, was ich in dieser Hinsicht dem Leser zu bieten habe.280
Vom Roßlochspitze dann in südlicher Richtung weiterstreichend, erhebt der Grat sich wieder zu mehrfachen, zerscharteten Mauerzinnen und endlich zum säulenartig emporstrebenden Gipfelkegel der ,,Hohen Kanzel". Vom Grubenkarspitze bis hierher gehört die steile, jenseitige Flanke des Felsenkammes dem Grubenkar an, der ersten der großen Hochtalmulden des Vomper Lochs; die Vomper Kette löst von dem Umwallungskreise des Roßloch auf dem südöstlichen, dem höchsten Gipfel des Grubenkarspitzes, sich ab.
Die Hochkanzel bildet den zweiten Eckpunkt dieser Umwallung, von welchem ab dieselbe wieder gegen Westen sich wendet, um ihren großen, nach dieser Himmelsgegend geöffneten Halbzirkel zu vollenden. Mit diesem mächtig das Vomper Loch überherrschenden Gipfel beginnt die zwischen dem Hinterau- dem Gleirschtaler Kamme eingeschobene kurze Parallelkette, welche mit [S. 793] dem größten Teile ihres Verlaufes das Lafatschtal begrenzt und insoferne passend als die Lafatscher-Kette bezeichnet werden könnte, wenn nicht die Verwechselung mit dem Abschnitte des Halltaler Kammes, welcher die beiden Lafatscher (Gipfel) trägt, alsdann zu nahe läge.
Steil, fast absatzlos, bricht die Hochkanzel ostwärts ins Vomper Loch, auf die Talebene des ,,Hinteren Anger" nieder; die Strebepfeiler ihres Fundaments engen die Mündung des Grubenkars ein. Von ihrem Scheitel weg sinkt der Grat westwärts zu enger, durch einen kleinen Turm gespaltener Scharte nieder, erhebt sich von dieser wieder zu einer dreieckigen Kegelpyramide, und im unmittelbaren Anschlusse daran zur gestreckten Kuppe des Brandlspitzes, des Hauptgipfels im linken Flügel der Umwallung des Roßlochs. Als äußerst scharfe, zerhackte Felsenschneide setzt der Grat gegen Westen sich fort zu einer um weniges hinter dem Brandlspitz an Höhe zurückstehenden, flach gewölbten Kuppe [dem Gamskarlspitz], sinkt von dieser in mehrfachen unbedeutenden Zacken und Felsspitzen ständig herab, fällt dem Haller Anger gegenüber neuerdings um eine bedeutende Stufe und zieht von dort ab als begraster und mit Buschwerk bewachsener Rücken hinaus gen Westen, bis er mit dem Lafatschtale zugleich - in steilem Abbruche sein Ende erreicht. Dieser letzten Kammstrecke kommt der Name Suntiger im engeren Sinne zu.
Die Nordseite des ganzen Kammes, vom innersten Roßkar bis hinaus zur Kasten-Alpe, bildet steile, allem Anschein nach unzugängliche Mauern von 300 bis 500m Höhe. Südwärts zeigt der eigentliche Suntiger-Grat, wie bereits erwähnt, mäßige, von Vegetation überkleidete Abdachung, die Felsenzinnen im Nordosten des Haller Anger zerrissenes, von einzelnen Wandgürteln durchsetztes Geschröfe, der gipfeltragende Grat aber kaum minder steile Abstürze, als zum Roßloch hinunter. Die Wasserscheide, d. h. die vom Joche am ,,Überschall" nach dem Grate lieraufgezogene Linie, trifft diesen noch westlich seiner Hauptgipfel, welche daher als Angehörige des Vomper Lochs zu betrachten sind.
Ich gehe nunmehr zur Beschreibung der Bergwanderung über, welche über die Gipfel im Roßloch - zunächst über jene der nördlichen Umrandung - mich hinwegführte, und deren Fortsetzung mit der Eröffnung eines neuen, bis dahin meines Wissens noch nicht gekannten Weges nach diesem abgesperrten Talwinkel endete.
Es war im August 1870, als ich in der Scharnitz hauste, während draußen in der großen Welt die Kriegsfurie über halbe Länder dahinfuhr und unter ihren vernichtenden Schlägen die Völker Europas erzitterten. Die Zeit war wenig einladend mehr zu Alpenwanderungen; der Drang allein, mit der Aufgabe, die ich für diesen Sommer mir gestellt und welche der Vollendung bereits so nahe gediehen war, zu einem Abschlusse zu kommen, vermochte in den Bergen mich länger festzuhalten, und die möglichst schleunige Ausführung der noch ausstehenden Gipfelexkursionen bildete all mein Sinnen und Trachten.
Das Wetter gegenteils war für solche Absichten ein wahrhaft trostloses. Tag für Tag Wolken, Regen, abends ein blasser Sonnenschein, der für den folgenden Tag trügerische Hoffnungen vorgaukelte. Dabei fortwährend der Wolken- [S. 794] zug längs der Karwendelspitzen vom Flachlande herein nach dem Inn, - der hier sogenannte ,,bayerische Wind", dessen verzweifelte Persistenz in der Regenfabrikation ich auch bei späteren Gelegenheiten wieder erfuhr; ,,der bayerische Wind bringt uns nichts Gut's", sagten mit bezeichnender Anspielung die Scharnitzer.
In den vier Tagen vom 30. Juli bis zum 2. August hatte ich die gesamte Gleirschtaler Kette unter zum Teil ungünstigen Witterungsverhältnissen ab-solviert; der 3. August wurde, als voraussichtlich letzter Schönwettertag, zum Besuche der beiden äußersten Hinterautaler Gipfel, Pleißenspitze und Larchetkarspitze, verwendet; dann Regen und Sturm bis zum 13.
Am Abende dieses Tages zeigten sich zuerst wieder günstigere Witterungsaspekten, der Nordwind setzte aus, der Wolkenflug beruhigte sich. Ich rüstete mich zur Bergfahrt, zum dritten Male nach dem Hinterautale, wo ich in der vergangenen Woche bereits einmal drei Tage im Jägerhaus, vergeblich auf hellen Himmel wartend, zugebracht hatte. Es war zu spät, um am gleichen Abende noch aufzubrechen und Station im Hinterautale zu nehmen; um so früher aber verließ ich am folgenden Morgen, der wirklich heiteren blauen Himmel brachte, mein Standquartier.
Eine Ersteigung im inneren Hinterautale konnte für diesen Tag nicht in Frage kommen, aber ich hatte auch in der Nähe von Scharnitz noch zu schaffen. Die Große Riedlkar- und Breitgrieskarspitze warteten noch des Besuches, dann hatte ich die ganze Westhälfte des Hinterautaler Kammes kennen gelernt - denn vom Seekar- bis zum Birkkarspitz hatte schon im Juli eine Tageswanderung mich geführt - dann kamen die Gipfel im Moserkar, die verwegene Kaltwasserkarspitze voran, an die Reihe - dann blieben noch die Sonnenspitzen, die Zinnen im Roßloch, die gefürchteten Felsenkegel des Kanzel- und Brandlspitz - dann noch ein einziges hervorragendes Haupt in der Vomper Kette: der Spritzkarspitz - dann war ich zu Ende! Aber wann, wann wird das sein? - Werde ich noch zu Ende kommen in diesem wirren, wüsten Gebirge?
Immerhin hatte ich Grund genug, jeden Tag so gut wie möglich zu nützen. Für heute also ging es aus dem Karwendeltale gegen die Pleißenspitze hinan, von ihrer breiten Südwestabdachung ablenkend ins Mitterkar hinüber, und an der - mit bewährtem Spürsinne bald ausgemittelten Übergangsstelle nach dem Großen Hinterkar hinab. Vormittags gegen neun Uhr stand ich auf der Großen Riedlkarspitze, stieg von dieser gegen Osten ab in die östliche Mulde des Großen Hinterkars, gewann von da aus leicht den Zweigkamm der Breitgrieskarspitze, und hatte gegen Mittag das Haupt dieses interessant gestalteten, scharf abgehackten Gipfels erreicht. Wider Erwarten ersah ich eine ganz günstige Gelegenheit, nach dem zwischen der Breitgrieskarspitze und dem benachbarten Großen Seekarspitz gelegene Breitgrieskar abzusteigen, suchte dann durch dessen langgestreckte Talung aufs Geratewohl den Weg, und war auch in der Tat so glücklich, nach kurzem ein ganz gutes Steiglein anzutreffen. Bei sehr guter Tageszeit noch war ich auf der Sohle des Hinterautales angelangt, und anstatt talauswärts nach Scharnitz zu marschieren, wandte ich mich in entgegengesetzter Richtung nach dem Jägerhause [S. 794] "Am Kasten". Mißvergnügt genug sah der wachthabende Jäger mich dort ankommen; wußte er doch, - daß es nun den Besuch des Roßlochs, - daß es die frevelhafte Ruhestörung im Allerheiligsten seines Revieres gelte.
Ich hatte mich nach den Schwierigkeiten, die mir von Seiten des Jagdpersonals bei meinem ersten beabsichtigten Eindringen in diesen verborgensten Winkel des Karwendel- Gebirges entgegengetreten waren, alsbald an den mit der Oberaufsicht über die fürstlich Hohenlohe'sche Jagd im Hinterautale betrauten Herrn Oberförster in Scharnitz gewendet und von diesem auch in zuvorkommendster Weise die Zusicherung erhalten, daß meinen Erforschungsprojekten kein Hindernis im Wege stehen solle und er den Jägern dementsprechende Anweisungen erteilen werde. Doch konnte ich, wie sich bei einer späteren Gelegenheit herausstellte, von großem Glücke sagen, daß die wirkliche Ausführung dieser Projekte auf einen Zeitpunkt traf, wo dem Turnus zufolge gerade der mindest wilde der drei wilden Jäger auf Wacht im Hinterautale war. Bei meiner Ankunft am 14. abends erwartete sein Vorgänger eben seine Ablösung.
Ich vollführte am nächsten Tage die Ersteigung der Kaltwasserkarspitze in finsterem Gewölke und rasendem Schneesturm, am 16. August bei kaum besserem Wetter den leichten Besuch des Moserkarspitzes.
Früh am Nachmittage kehrte ich von diesem zurück, und nun - da die Witterungsaspekten etwas günstiger sich zeigten - erklärte ich dem inzwischen neu angekommenen Jäger rundweg, daß ich jetzt ins Roßloch gehe; die bezüglichen Weisungen werde er von seinem Vorgesetzten bereits erhalten haben - wenn er übrigens hinsichtlich der Einrichtung meiner Wanderung besondere Wünsche hege, so wolle ich solche gern berücksichtigen. Mit etwas süßsauerem Gesichte sagte er mir dann, wenn es denn sein müsse, so solle ich wenigstens zu allererst geradeswegs nach der ,,Stang"' (dem Grubenkarspitze) gehen und von dort aus gegen ,,das Sonnenjoch" [die Sonnenspitzen] herüber; so würden dann doch nur die Gemsen, die ich auf meinem ersten Wege aufsprengen würde, aus dem Revier hinausgejagt, in umgekehrter Richtung aber alles. Aber ,,erlauben hätt' er's nit sollen, der Herr Oberförster, es rennt doch alles davon".
So machte ich mich denn gegen Abend auf, um noch das kleine Birschhäuschen am Ende des Tales, unmittelbar am Fuße der zirkusförmig zu dem Hügelplateau in der Hochregion des Roßlochs aufstrebenden Wände zu erreichen. In fast feierlicher Stimmung wanderte ich den schmalen, mitunter kaum kenntlichen Pfad dahin, der in diese verschlossene, von niemandem fast betretene und gekannte Felsenwelt mich führen sollte.
Über die Wiesenfläche der Kasten-Alpe, dann durch hohes Krummkieferngebüsche führte mich der Pfad am rechten Ufer des Roßkarbaches entlang; am Eingange des eigentlichen Tales rücken ,die dasselbe beiderseits einschränkenden Felsenwälle - der Ausläufer der Sonnenspitzen von links, der Suntiger von rechts - hart aneinander, der schmale Zwischenraum bildet einen hügelig unebenen Boden, mächtige Schuttmassen, welche von beiden Seiten sich herabgießen, versperren die Talsohle, und von einem [S. 796] Bache in derselben ist nichts mehr zu hören, noch zu sehen; er sucht sich seinen Weg tief unter dem überdeckenden, rauhen Getrümmer, in welchem auch die von den benachbarten Wänden herunterstürzenden Wasserstrahlen spürlos verschwinden.
Etwa dreiviertel Stunden vom Jägerhause am Kasten entfernt, endet diese Talenge und öffnet sich auf einen breiten, ebenen Wiesenplan; der vom Südlichen Sonnenspitz herabsinkende Grat fängt an zurückzutreten, den Ausblick nach der Höhe, in die Kare am Ostfuße des ,,Sonnenjochs" zu eröffnend. Mitten durch die an vielen Stellen von Geröll überdeckte Grasfläche rauscht auch wieder lebendig der Bach in tiefem, durch den Schuttboden gerissenem Bette. Ein mäßig steiles, mit Krummholz überhangenes Geschröfe steigt im Hintergrunde dieses Talbeckens empor, von tiefer Klamm durchspalten, in welcher hier und dort die weißschäumenden Sätze des herabstürzenden Wildwassers erglänzen. Auf diesem spärlichen Weideboden befand sich früher eine Alphütte, ,,Im Hinterkar" genannt, daher auch der in die Karten übergegangene Name ,,Hinterkar" für das Roßloch selbst. Jetzt wird dort kein Vieh mehr aufgetrieben, da Fürst Hohenlohe um der Ruhe seines Jagdrevieres willen die Alpe käuflich an sich gebracht hat.
Ein gut kennbarer Steig führt, die Klamm zur Linken lassend, in kurzen Zickzacklinien durch das Krummholz empor. Während des Aufsteigens erweitert sich die Aussicht rasch über das Hinterautal und seine Gebirge und - durch den weiten Aufschluß des vier Stunden langen, geradlinigen Tales - auf die fernen Berge der Scharnitz, die Arnspitzen und die Dreitorspitz-Gruppe im Wetterstein-Gebirge.
Nach einer halben Stunde Steigens hatte ich die zweite Terrasse erreicht, einen von den ringsum sich aufbauenden, teils kahlen, teils bebuschten Bergflanken zirkusförmig geschlossenen Platz, und auf ihm auch mein Ziel: Hart an das Gehänge angelehnt erschien zur Rechten das Birschhäuschen, ein ganz niedriges, mit einer Türe und zwei Glasfenstern versehenes Holzgebäude. Die äußere Tür war mit einem hölzernen Riegel verschlossen, welcher - um gedreht werden zu können - erst ein wenig zurückgeschoben werden mußte. Ich trat in den Vorplatz ein, wo die Feuerstelle sich befand. Die Türe zum eigentlichen Zimmer zeigte sich mit einem eisernen Klinkenschloß versehen, welches jedoch in total demontiertem Zustande sich befand und schlechterdings nicht zu eröffnen war. Ich sprengte es schließlich mit dem Bergstock und schickte später den am Jägerhause ,,Am Kasten" beschäftigten Schreiner hinauf, um gegen gute Bezahlung den Schaden wieder auszubessern, - was indes nicht hinderte, daß die Anklage: ,,Die Tür hat er auch z'samm' g'haut!" mit auf das große Register der Untaten kam, welche die Hinterautaler Jäger von mir aufzuzählen wußten.
Im Inneren des kleinen Zimmers fanden sich ein Tisch und ein paar Stühle, sowie zwei Bettstellen, welche indes - in Ermangelung anderweitigen Materiales - vorerst nur mit den von der Zimmermannsarbeit übergebliebenen Hobelspänen gefüllt waren und kein sonderlich gutes Nachtlager versprachen. Zunächst ging [S. 797] es nun an die Revision der Eßvorräte, welche freilich, an der Kasten-Alpe erst beschafft, dürftig genug bestellt waren: außer dem steten Begleiter, dem Kaffee, war für diesen Abend und die beiden nächsten Tage nichts verfügbar, als ein halber Rundlaib Schwarzbrot, ein etwa einhalb Pfund schweres Stück Ziegenkäse und eine halbe Flasche Ziegenmilch; denn es gab zu jener Zeit auf der Kasten-Alpe nur diese letztere; das Rindvieh befand sich oben auf einer Hochalpe im Lafatschtal oder auf der Terrasse, welche unter den nördlichen Steilwänden der Gleirschtaler Kette sich hinstreckt. Nachdem der schmale Abendimbiß eingenommen, streckte ich mich aufs Hobelspänelager und verbrachte eine lange, infolge des sehr fühlbaren Frostes ziemlich schlaflose Nacht.
Ich war denn auch sehr gern bereit, den ersten Anzeichen des herannahenden Tages Folge zu leisten und das wenig verführerische Nachtquartier zu verlassen. Ein ungewisses Zwielicht, welches an den Felswänden spielte, verriet neben der Stunde, welche die Uhr wies, allein den Anbruch des Morgens; der östliche Horizont war mir durch den gewaltigen Felsenwall, dessen, Gipfelzinnen ich zu ersteigen gedachte, verdeckt, im Zenith aber und hinaus gegen den freien Westen wölbte das Firmament sich noch schwarz und besät mit funkelnden Sternen, deren lebhaftes Glitzern wieder wenig Gutes für den heraufziehenden Tag verkündete.
Ziemlich unsicher tappte ich im Dunkeln meinen Weg entlang, wurde erst von einem breiten, hübschen Pfade in die Irre geführt, der anfangs der Höhe zuzuführen schien, aber immer weiter nach recht sich abkrümmte und - augenscheinlich einzig und allein für Jagdzwecke angelegt - wohl in die kleinen Kare am Nordfuße der Wände des Gamskarspitzes hinaufführte; ich hielt mich dann weiter gegen links, schlug mich ein wen'g durch Krummholz, welches indes glücklicher Weise hier oben nicht sonderlich mächtig mehr ist, und hatte ziemlich holprigen Weg bis in den Hintergrund des vom Berggehänge gebildeten Zirkus, wo ich über begraste Felsstufen rasch zur Höhe emporstieg. Ich befand mich hier auf der richtigen Weglinie, welche vom Birschhause weg längs des Bächleins taleinwärts läuft und am Fuße des steilen Gehänges alsbald als ausgeprägter Pfad erscheint. Dem Birschhause gegenüber läuft an den südlichen Bergflanken ein schöner, in langen Serpentinen, angelegter Jagdsteig zur Höhe des Bockkars empor, welchen ich mir als geeignete Rückzugslinie merkte.
Es war nun völlig hell geworden. Wie vorauszusehen gewesen, erschien der vor kurzem noch so klare Sternenhimmel im Tageslichte nicht blau, sondern übersponnen mit einem feinen Grau, welches von Minute zu Minute sich dichter zusammenzog Die Bergspitzen, welche mit allmählicher Erhebung auf die Höhe der ausgedehnten Terrasse des Roßkars wieder sichtbar hervortraten, hielten sich jetzt noch frei, aber immer trüber wurde es um ihre Scheitel, immer düsterer in ihren Scharten, hier und. da erschien bereits ein feuchter Dunstgürtel an ihren Flanken, und draußen im Hinterautal qualmten schon wieder dicht und schwarz die Nebel. In kurzen Stößen fegte ein frostiger Wind über die Felsenhügel. Es war ein Tag, genau wie der vorgestrige auf der Kaltwasserkarspitze und ich konnte wieder lediglich auf einzelne lichte Momente zur Beobachtung hoffen.
Im Roßkar (28.7.2002) [Zum Vergrößern anklicken][Das Bild zeigt die Roßlochspitze rechts und die Grubenkarspitze in der Mitte aus der Roßkar.] [S. 798] Eine starke Stunde nach Verlassen des Birschhauses hatte ich die Höhe des Kars völlig gewonnen. Vor mir lag die öde, kahle Felsenterrasse, welche vom Gamskarspitz unter dem Roßloch- und Grubenkarspitz hin bis unter die östlichen Steilwände der Sonnenspitzen in ungeheurem Halbbogen sich herumzieht und durch niedrige Hügeldämme nur sehr unbestimmt in einzelne Kare abgeteilt wird; ein steinernes Meer mit seinen zahllosen Wellenbergen und Wellentälern, mit seinen kuppigen Höhenrücken, abgerundeten Terrassenstufen, mit seinen, geschlossenen Becken, Kesseln und Trichtern und seinen tiefen, schwarzen, zahnrandigen Spalten und Klüften, welche das abrinnende Regen- und Schneewasser in den starren Fels genagt hat. Die einzige hervortretende Schranke in diesem ausgedehnten Terrassengürtel bildet, wie bereits früher erwähnt, der vom Roßlochspitz gegen Westen ausstrahlende Grat; von diesem ab bis zum Nördlichen Sonnenspitz, ist der Zusammenhang des Plateaus ein fast ununterbrochener, während auf der anderen Seite ein tiefer und weiter Kessel in die Nordwände der Hochkanzel und des Brandlspitzes sich einbuchtet.
Der heutige Tag war zum Besuche der Zinnen in der nördlichen Umrandung des Roßlochs, einschließlich des Grubenkarspitzes, bestimmt; morgen sollten dann der Roßlochspitz und die beiden gewaltigen Häupter in der südlichen Umwallung an die Reihe kommen, - vorausgesetzt, daß mir die heute anzustellenden Beobachtungen die Möglichkeit ihrer Ersteigung vom Roßloch aus würden wahrnehmen lassen; denn vom Vomper Loch heraufzudringen, dazu bestand mir keine Hoffnung. War es vom Roßloch aus nicht möglich, dann blieb nur noch ein Mittel, ein nahezu verzweifeltes: vom Suntiger her den Grat zu überklettern, welcher bis zu diesen mächtigen Eckpfeilern des Vomper Lochs sich hinauszieht. Die Hirten am Haller Anger hatten mir die Möglichkeit der Gratübersteigung angegeben, doch war dieser Rat kaum mehr wert, als das bloße eigene Urteil, daß, wenn es auf, anderem Wege nicht gehe, dieser versucht werden müsse; denn selbst versucht hat ihn, so wie ich die Leute im Karwendel kenne, gewiß keiner von ihnen. Ich hatte auch bereits die Frage angeregt, ob denn nicht vom Roßloch aus diesen Gipfeln beizukommen wäre; hatte aber darauf entschieden verneinende Antwort erhalten, bekräftigt durch die mythische Erzählung, daß ein einziges Mal, vor langer Zeit, ein Jäger vom innersten Roßloch aus bis auf den Grat gestiegen sei, der habe aber Rucksack und Büchse wegwerfen müssen, um sich zu retten.
Den Wert solcher Angaben und Erzählungen hatte ich bereits zur Genüge würdigen gelernt; es kam darauf an, was das eigene Auge mir sagen würde. Und so schritt ich über die Hügeldämme, durch die plattigen Tälchen und Gruben des Roßkars fürbaß, gerade auf das Ende des Ausläufers des Roßlochspitzes zu, wo ich dann links, meinem ersten Gipfelpunkte entgegen, abzulenken hatte.
Sehr gespannt war ich auf die Mengen von Bergwild, welche der Eintritt in dieses so ängstlich verwahrte Revier mir vorführen sollte, wie nicht minder darauf, ob nun wirklich ihre Scheu eine so große, ihre Flucht eine so weite sein würde, wie man mir versichert hatte. Hatte ich auf meinen dreijährigen Berg- [S. 799] wanderungen ja doch Tausende und Abertausende der zierlichen Hochgebirgsbewohner vor mir auf den Felsen dahinjagen sehen, und kaum jemals hatte ihre Flucht länger gewährt, als bis sie aus meiner Wegerichtung waren und sahen, daß sie nicht weiter von mir verfolgt wurden; was mochte nun gerade hier sie so weit, in ganz andere Täler und Berge hinübertreiben?
Es dauerte ziemlich lange, bis ich einige der flüchtigen Alpengazellen von den Felsenhügeln aufspringen sah. In der ungeheuren Öde, die mich umgab, konnte nicht der geringste sich bewegende Gegenstand von mir unbemerkt bleiben, jedes klappernde Steinchen mußte meine Aufmerksamkeit erregen. Es blieb aber ziemlich still und einsam. Noch ein paar weitere Gemsen wurden aufgestört und vereinigten sich mit den ersten; der ganze Rudel belief sich schließlich auf sieben Stück. Sie steuerten entschieden auf den Grubenkarspitz los, und insofern also bewahrheitete sich die Aussage des Jägers; Eile aber schienen sie nicht im geringsten zu haben, sprangen stets auf 400 bis 500 Schritte vor mir her und sicherten alle Augenblick. So kamen wir fast gemeinsam am Fuße des Roßlochspitz-Ausläufers an; die Gemsen zogen in das Kar hinauf, welches von diesem Zweigkamme und der vortretenden Masse des Grubenkarspitzes gebildet wird, und schienen Lust zu haben, bei weiterer Verfolgung entweder durch die Scharte auf dem Hochrande dieses Kars oder über den Grubenkarspitz selbst ins Vomper Loch hinüberzuwechseln. Nun aber wandte sich mein Weg entschieden links, durchschnitt den mit zerklüfteten Platten bedeckten Boden des Kars in schräger Richtung und begann die steilen Sandreißen emporzuklimmen, welche den mit bastionartiger Rundung vortretenden kurzen Ausläufer des Grubenkarspitz umlagern. Sobald die Gemsen sich von dem ungewohnten Eindringling nicht weiter verfolgt sahen, hielten sie an, und nicht lange dauerte es, so sah ich den ganzen Trupp gemächlich, wie er gekommen war, aus dem Hochkar wieder nach den dürftigen Grasplätzchen der tiefer gelegenen Terrassen zurückwechseln. Das also war der Wildreichtum, war die berufene Scheu und Flüchtigkeit des Gemswildes im Roßloch! - Viel Lärm um nichts! - Wer nur Gemsen sehen wollte, Hunderte an einem Tage und auf Stundenweiten über die Grate und Karrenfelder dahingaloppierend, wie man in manch schönem Revier unserer Nördlichen Kalkalpen es sehen kann, der brauchte die Hinterautaler Jäger wahrlich nicht zu behelligen281!
Ich war zwei Stunden im Marsch, als ich die Höhe der obersten Kare und den Fuß meines ersten Gipfels erreichte. Schwierigkeiten hatte ich von diesem, dem Kulminationspunkte des Roßlochkammes, nicht zu gewärtigen. Der Anstieg ging von den Sandreißen nach dem Scheitel des Rundkopfes, welcher ins Roßkar hinein sich vorschiebt, über abschüssigen Plattenboden, dann in einer Mulde, welche gegen oben zu engem Kamine sich zusammenschnürt, ohne bedeutende Hindernisse, wenngleich nicht ganz mühelos vonstatten. Von dem breiten Geröllscheitel wandte ich mich rechts ab und betrat nach kurzem den Hauptgrat, von welchem der Blick über steiles Gewände in die weite, hügelige Mulde des Grubenkars hinunterfiel; dies weite Aussichtsbild über die Gipfel der Vomper Kette und des Bettelwurf-Stockes, getrennt durch den finsteren Spalt des Vomper [S. 799] Lochs, ins Inntal hinaus und auf die Achensee-Gebirge, welches auf dieser Kammhöhe sich eröffnen mußte, lag bereits größtenteils im Nebel, und dicht und düster qualmte es aus allen Tiefen nach meinem Grate herauf. Wenige Minuten noch - und alles war in Wolkengrau versunken.
Der Grat, welchen ich verfolgte, war anfangs ziemlich breit und fast eben, begann dann wieder zu steigen und zusehends sich zu verschärfen, ohne indes irgendwelche bedeutende Schwierigkeiten zu bieten. Erst nach Erreichung des - durch den Wolkenschleier hindurch eben noch sichtbaren - Punktes, welcher bisher als kulminierender mir vor Augen gestanden war, erblickte ich, bereits ziemlich nahe vor mir, den eigentlichen Gipfel, welcher eine große Signalstange trägt und deshalb bei den Hinterautaler Jägern und Hirten unter dem Namen ,,Die Stang" bekannt ist. Es ist dies auf dem Hauptgrate der Hinterautal-Vompertaler Kette das einzige Vermessungssignal auf der weiten Strecke vom Birkkarspitz bis zum Rotwandlspitz in der Nähe des Hochnissel. Nach Überwindung der letzten, aus zerborstenen Zacken zusammengefügten, ziemlich schmalen Gratstrecke betrat ich - drei Stunden nach Aufbruch vom Birschhause - den mehrere Schritte breiten, mit großen Felsblöcken überworfenen Scheitel des Grubenkarspitz.Bettelwürfe von Norden (28.7.2002) [Zum Vergrößern anklicken][Das Bild zeigt den Blick nach Süden, auf den Großen und Kleinen Bettelwurf, vor dem Kleinen Bettelwurf die Roßlochspitze und die Hochkanzel, links das Grubenkar.]
Ich nahm den Knotenpunkt der verschlungenen Gebirgskämme, die vielleicht kein kundiges Auge vorher noch geschaut, kein Fuß eines Forschers noch betreten hatte, - ich nahm das Herz der Karwendel- Gruppe ein. Von meinem Gipfel verlaufen die Grate nach Westen und Osten, hier das bedeutendste Quelltal der Isar begleitend, dort das wildeste der Zweigtäler des Innlaufes durch die Nördlichen Kalkalpen. Nach Süden hinab streckt sich ein dritter Grat, der mir gegenüber zum Roßlochspitz sich erhebt, dann umbiegend die gewaltigen Häupter des Suntiger-Kammes trägt und das Kettenglied nach dem dritten Parallelkamme des Karwendel-Gebirges bildet, dessen gewaltigste Felsenmassen, die Bettelwurfspitzen, Speckkarspitz und Lafatscher, mir dort entgegentreten. Blick in die Laliderer Wand [Zum Vergrößern anklicken][Das Bild zeigt die Nordabstürze der Laliderer Wand und dahinter den zum Hohljoch vorgeschobenen Grubenkarpfeiler (abends aufgenommen).] Nordwärts aber stürzt die Steilwand - Steilwand, wie sie nirgends riesiger, erdrückender, schauernd großartiger dem Bergwanderer gegenübertritt - stürzt die absatzlose, nur von senkrechten Klüften und Schachten durchspaltene Steilwand über 1000 Meter tief zutal. Sie ist's, die im versperrten Talkessel von Laliders demjenigen, der von der Riß herein dem innersten Heiligtume des Felsengebirges naht, so unfaßbar groß, so gebieterisch abweisend sich entgegenstellt, sie ist es, die seinen Weg über die ungeheuren Trümmerwälle an ihrem Fuße - über das grüne Hohljoch nach der Eng-Alpe hinüber - mit schwarz und feuergelb gestriemter Mauer begleitet und drohend überragt und unter der steten Gefahr ihrer zermalmenden Geschosse hält. Droben auf den Wiesenmatten des Hohljochs, dessen Kamm sich nordwärts wieder zu Gipfelhöhen emporschwingt, zum Gumpenkarspitz und zu den aussichtreichen Kuppen des Gamsjoch, - dort auf der Scheide zwischen den beiden innersten Quellentälern der Riß, da mag man die Hand anlegen an den Mauerpfeiler, der zum Grubenkarspitz sich emporschwingt; dort steigt vom Grasgelände weg der blanke Fels, die stufenlose Wand auf, turmhoch, bergeshocch, wolkenhoch, - und nicht vermeint das [S. 801] Auge die Grenze dieser Höhen je erreichen zu können. In stummer, scheuer Bewunderung haftet der Blick an diesem Bau, mit beklommenem Staunen schweift er wieder und wieder empor zu den Zinnen, die in unermeßlicher Ferne seine Scheitel krönen. Bescheidenlich weicht der Tritt zur Seite und folgt - unsicher schwankend fast unter dem Eindrucke des Erschauten - den Pfaden, die hinab, talaus ihn leiten; die Schranke ist für Menschenwerk zu groß!282
Und nun stehe ich oben! . . . . Wenn der Leser das Bild, welches sich dort auf dem herrschenden Gipfel der Roßloch-Kette entrollt, nur im Geiste sich ausmalen kann, so mag er sich mit mir trösten; auch ich war darauf angewiesen, nach früher Gesehenem das Bild, welches mein Standpunkt mir bieten könnte, im Geiste mir zu gestalten; dem leiblichen Auge blieb es verschlossen, Düster grau lagerte das Gewölk und bleischwer auf den Felsenhöhen; selten nur, daß einmal die nächstfolgende Gratstrecke über den Scheitel des Grubenkarspitzes hin, oder die düstere Pyramide des tief unter mir liegenden Roßlochspitzes aus dem Qualm herausbrach oder ein Stück hügeliger Steinwüste - das Roßkar hier, das Grubenkar dort - auf einen Augenblick erschien und wieder entschwand Ich kannte diesen Witterungscharakter aus den Erfahrungen der vergangenen Tage zur Genüge und wußte, daß ich vor einigen Stunden kaum Besserung zu erwarten hatte; erst die Vormittagsstunden konnten durch die Wärme der steigenden Sonne Bewegung in das Wolkenmeer bringen und im Wechsel mit Regen- und Schneeschauern einzelne Aussichtsmomente bieten. Auf dem ersterstiegenen Gipfel dieses abzuwarten - auch wenn ich Lust gehabt hätte, wie auf der Kaltwasserkarspitze mehrere Stunden lang im Unwetter stille zu liegen - erlaubte diesmal die Zeit nicht; vier Gipfel im Nordrande des Roßlochs warteten heute noch auf meinen Besuch. und ich konnte nicht wissen, ob dieser bei ihnen allen so glatt und rasch von statten gehen würde, wie der des Grubenkarspitz. Und so schied ich denn, nachdem Kaffee gekocht und getrunken worden war, bedauernd von diesem Herrscherhaupte des Roßlochs, welches meine Erwartungen hinsichtlich eines umfassenden Überblickes meines gesamten heurigen Bergrevieres so schnöde betrogen hatte.
Mein nächstes Ziel war der abenteuerlich geformte, mit drei scharf gespitzten Felsenzinken gekrönte Gipfel, dessen dunkle Silhouette so auffällig im Grate sich abzeichnet, wenn man von der Laliders-Alpe zu dessen schwindelnder Höhe emporblickt; er, und der krumme Kegel des Bockkarspitz (des nächsten Nachbarn des Nördlichen Sonnenspitzes) - das waren die beiden Fragezeichen des heutigen Tages.
Den geradesten Weg dorthin bot mir der Grat des Grubenkarspitzes selbst, welcher, soweit ich durch die Nebelhülle hindurch es beurteilen konnte, keine sonderlich bedeutenden Hindernisse entgegenstellte. Zwar nötigten überhängende Wandstufen auf dem Grate - durch die vorspringenden Köpfe der hier (wie auch sonst fast überall im Karwendel) südwärts einfallenden Schichten gebildet - gleich anfangs zu Umgehungen nach der Westseite, welche indes leicht ausführbar waren und nicht allzuweit von der Schneide ableiteten. Bald zeigte sich auch diese selbst wieder gangbar, mit flachliegenden Platten bedeckt und fast [S. 802] horizontal verlaufend. In abgerissenen Zacken hebt sie sich allmählich wieder empor zum zweiten Gipfel, welchen man als den Nordwestlichen oder Kleinen Grubenkarspitz bezeichnen könnte. Die breiten Schuttfelder des Roßkars ragen gegen den beide Gipfel verbindenden Grat sehr weit herauf und ein direkter Abstieg von demselben ins Roßkar - der geradeste Weg, wenn man etwa vom Grubenkar über den Grubenkarspitz herüber käme283 -würde auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen.
Ich hielt mich auf dem Kleinen Grubenkarspitz nicht auf, da die Aussichtsverhältnisse sich um nichts gebessert hatten, und verfolgte meinen Weg auf der Schneide weiter. Die riesigen Steilwände von Laliders drängten nun hart an die Klippen und kleinen Felszähnchen des Gratscheitels heran. Schwarz stürzte es dort hinunter in die Tiefe; sehen konnte ich nichts, aber durchs Wolkendunkel herauf klang das eintönige Glockengeschelle von der Alpe, hart vor meinen Füßen, nur durch einen unermeßlichen Höhenabstand von mir getrennt. Linker Hand dagegen begannen in einiger Entfernung vom Kleinen Grubenkarspitz die streifigen Felsgehänge allmählich völlig in loses Schuttfeld überzugehen, während gleichzeitig der Gratscheitel selbst gegen die Scharte, welche den Grubenkarspitz von seinem Nachbargipfel trennt, stärker zu fallen anfing. Ein kurzer Bogen nach der nächstgelegenen Terrasse hinab, dann über eine unbedeutende Felsstufe in die Geröllsinke, welche in der Scharte auf dem Grate ausläuft, brachte mich in unmittelbare Berührung mit dem nächsten Ziele meiner Wünsche.
[Dreizinkenspitze vom Roßkar] Dicht in Nebel gehüllt stand es vor mir; der breite Schuttabhang, auf dessen Höhe ich die dreizinkige Krone wußte, hob sich verwaschen ins ungewisse Grau hinein; eine momentane Lücke im Wolkenqualm zeigte mir hoch oben die durchspaltenen Felsenzacken, einer zerfallenen, rauchgeschwärzten Burgruine vergleichbar. Ich stieg das ziemlich steile Schuttfeld in schräger Linie gegen links an, um so in die Nähe der Westkante zu gelangen, aus welcher, wie mir bekannt war, der höchste der drei Zacken sich aufschwingt. Das Auftreten von festen Felsmassen im Schuttfelde kündigte ihre Nachbarschaft mir an; es waren massige, glattgewölbte, schwärzliche Plattschichten, welche sofort die Tätigkeit der Steigeisen in Anspruch nahmen und nur in kleinen Querrissen und unbedeutenden, unzuverlässigen Vorsprüngen ihnen Angriffspunkte boten. Ich drängte soviel als möglich nach der linken Seite hinaus, um an die stufenförmig gebrochene Außenkante zu gelangen. Auf die untersten Plattentafeln folgte etwas rauheres Geschröfe, welches in aufgerissenen Spalten ein mühsames Aufklettern ermöglichte, und über eine Lage großer, auf ihrer schlüpfrigen Unterlage oft unter dem Tritte weichender Felsblöcke erreichte ich den Rand, - und wieder stürzt senkrecht die schwarze Wand hart neben der Sohle hinunter in unergründliche Tiefen, und die Steine, welche der Fuß dort hinausstößt, verschwinden lautlos im lufterfüllten Raume. Den schwindelnd steilen Hinabblick abgerechnet, bot indessen von dort ab die Ersteigung des Gipfels wenig Schwierigkeiten mehr; auf verwittertem Getrümmer, welches teils noch aufrecht stehende Schrofen bildet, teils in völlig morschen Schutt zerfallen ist, gewann ich in wenig Minuten den westlichen und höchsten Zacken der Gipfelkrone, einen 60 bis 80 Fuß breiten, [S. 803] aber mehrere Schritte langen Grat. Die Ersteigung, welche wahrscheinlich die erste dieses seltsamen Felsgebildes gewesen ist, hatte vom Grubenkarspitz herüber eineinviertel, von seinem Fuße aus nur eine halbe Stunde gewährt. Seiner Gestalt entsprechend gebe ich ihm den Namen Dreizinkenspitz. Seine Höhe schätze ich nach den Beobachtungen über die relativen Höhenverhältnisse der Gipfel im Roßloch auf etwa 2600 m.284
[Das Bild zeigt das Sonnjoch (links der Bildmitte direkt über dem Gasthof in der Eng mit dem großen Parkplatz) und rechts die mächtige Spritzkarspitze, eines der Schaustücke über dem Enger Talschluß.] Schon während des Anstieges hatten sich feuchte Tropfen auf dem Gestein bemerkbar gemacht, jetzt begann es stärker zu regnen und dazwischen zu rieseln und zu schneien; der während der ersten Frühstunden fast ganz erstorbene Wind begann sich wieder zu regen, und in wildem Chaos wälzten die Wolkenmassen sich durcheinander. Das weite Hügelplateau des Roßkars war bald rein gefegt, während draußen, an den Laliderer Wänden und im Grubenkar drüben, das Nebelmeer lagerte und durch die finsteren Schachte herauf dampfte und qualmte. Und auch dort wurde es allmählich gebrochen und gelöst, immer weitere Risse teilten seine Massen und enthüllten dem Auge immer gewaltigere Tiefen, - aber noch immer keinen Grund, noch versinkt der Fuß des Gemäuers in die Wolken, aus welchen nach wie vor das Herdengeläute heraufklingt. Ein frisch über die Hinterautaler Berge herüberfegender Weststurm zerreißt endlich den letzten Nebelvorhang; da liegen die grünen, sonnenhellen Wiesenmatten zu meinen Füßen, Hütten, Hirten und Herden wie Spielzeug darauf zerstreut, die buschigen Höhen des Ladizer Jöchls und Hohljochs daneben, an welchen die weißen Fäden der Birschpfade sich hinaufschlingen - eine niedliche Krippchenlandschaft - so fremd, so fern! Gamsjochgruppe vom Lalidererbiwak [Zum Vergrößern anklicken][Bild: Das Gamsjoch, vom Laliderer Biwak gesehen, erscheint als elegante Pyramide - davor Gumpenspitze (2170 m) und Teufelskopf (1980 m).] Drüben die Kolosse des Gamsjochs, der Falken, und weiter hinaus die Berge der Riß, des Isartales, mildere Formen einer lebensvolleren Welt; ein duftiges Blau schimmert durch ihre Tore herein, freundlich lachen die Täler, von den silbernen Wasseradern durchschlungen, welche hier, wo ich stehe, aus Fels und Schnee geboren werden; sie ziehen dorthin, von wo ich kam, die Geheimnisse ihrer Wiege zu ergründen, und jetzt fuße ich auf diesen Felsenscheiteln285 und zwischen mir und dem Leben da draußen liegen die Wände von Laliders.
Rückwärts den Blick, nach Süden! Trümmerwüste, von zerspaltenen, ausgezackten Mauern umrandet, zerfetztes Gewölke über Plattenhügel und Schnee dahintreibend, Abgrund ringsum und Grabesstille, die nur das Brausen des Sturmes stört. Dort bin ich besser zu Hause! - Und ein Felsen mir gegenüber, dessen Häupter wohl niemand noch zu berühren wagte, und der für morgen auf mich wartet! Die Wächter des Vomper Lochs, Brandlspitz und Hochkanzel, - sollten sie überall mit Mauern umschanzt, sollte auch diese letzte Seite, von der ich sie zu sehen bekomme, unangreifbar sein? - Und mir will scheinen, ich habe die Lösung des Rätsels schon wieder in Händen: Die Kluft, die aus dem innersten Winkel des Roßlochs hinaufschneidet und zu beiden Seiten eines kleinen Turmes auf dem Gratsattel ausmündet . . . Nun wohl, auf morgen! -
Da fegt wieder ein Schneesturm von den Sonnenspitzen herüber und staubt über die Hügel des Roßkars, und düster grau dampft es von allen Seiten empor und ich bin wieder völlig abgeschlossen auf meiner Klippe. Eben recht zur [S. 804] Wanderung - bis zur Erreichung des nächsten Aussichtspunktes kann es sich wieder etwas klären. Ich machte mir noch den Scherz, auf den Nachbarzacken meines Gipfels, der etwa um Mannshöhe niedriger ist, einige Steine, hinüberzuschleudern, welche - von dem kaum einen Quadratmeter im Umfange haltenden Kopf abprallend - in sausendem Bogen zur unergründlichen Tiefe hinunterflogen. Einer aber blieb wirklich drüben liegen und liegt vielleicht noch heute dort. Der Zacken selbst ist eine völlig isolierte Felsennadel und augenscheinlich unersteigbar; könnte man auch hinaufklettern, so wäre sehr zu besorgen, daß sie unter dem Gewichte ihres Ersteigers selbst abbrechen möchte.
Gipfel der Laliderer Wand von der Laliderer Spitze [Zum Vergrößern anklicken][Das Bild zeigt den Blick von der Laliderer Spitze nach Osten auf den Gipfel der Laliderer Wand, davor die Biwakschachtel, weiter hinten Grubenkarspitze und Roßlochspitze.] Von dichtem Gewölk umfangen, begann ich den Abstieg vom Dreizinkenspitz. Sobald der schroffe Fels seiner Gipfelkrone hinter mir lag, und ich das Schuttgehänge wieder betrat, wich ich aus der Anstiegsrichtung gegen Westen ab, kam nahe an einer zweiten Gratscharte vorüber, von welcher schauerlich tief und schwarz eine mächtige Kluft durch die Wände hinunterschneidet, und begann den Anstieg an den Nachbargipfel, einen langgestreckten, höckerigen Felsenrücken. Über seine Ersteigung und die seines Nachfolgers, einer hübschen, vorwärts geneigten Pyramide, kann ich kurz hinweggehen, da sowohl die allgemeinen Gestaltungsverhältnisse dieser Gipfel, wie auch der Weg, den ich auf dieselben einschlug, aus dem Gebirgsprofile ohne weiteres ersichtlich sind. Die Ersteigung des ersten derselben bot keinerlei Schwierigkeiten; über Schutt und Getrümmer gelangte ich unter die Mauern der Gipfelschrofen, eine eingerissene Runse bot mir bald Gelegenheit, nach dem Grate emporzusteigen und über, dessen massige, zerspaltene und gegen einander gestemmte Felsblöcke hinweg den höchsten Punkt zu erreichen. Dieser besteht aus einem gewaltigen Steinwürfel, der indes nicht allzu fest mehr auf seiner Unterlage zu ruhen schien. Im Abstiege nahm ich den geraden Weg über die Schuttflanke, und zwar ziemlich tief untenhin, da ich links von mir eine langgestreckte Steilwandstufe wußte, welche ich völlig umgehen zu müssen vermeinte; nachträglich zeigte es sich, daß dieselbe an mehreren Stellen von gut gangbaren Schuttgassen durchbrochen ist und mit Benutzung einer solchen der Fuß des nächstwestlichen Gipfels mit weit geringerem Höhenverluste zu erreichen gewesen wäre. Die Ersteigung dieses letzteren ging von der Scharte an seiner Ostseite völlig leicht und abwechslungslos vonstatten; auf breitem Schutthange, zuletzt längs der östlichen Kante, wurde der geräumige Gipfelscheitel - eine mehrere Schritte breite Trümmermulde - erreicht. Der Absturz nach dem Tale von Laliders beginnt von ihm aus nicht in so unmittelbarer Nähe, wie von seinen Nachbarn, obwohl auch hier noch der grüne Talgrund mit seinen Alpenhütten nahe genug zu Füßen liegt.
[Im Bild die Laliderer Spitze mit der Biwakschachtel, links im Hintergrund die Sonnenspitze mit Abendlicht.] Die Höhe der beiden eben besprochenen Gipfel könnte mit Rücksicht auf ihr gegenseitiges Rangverhältnis und auf jenes zum Dreizinken- und zum Grubenkarspitz auf 2615 und 2580 Meter286 veranschlagt werden; der zweite derselben, die pyramidale Spitze, ist entschieden niedriger und der niedrigste in der nördlichen Umrandungskette des Roßlochs überhaupt. Mit dem Dreizinkenspitz zusammen bilden diese Gipfel die eigentliche Mitte und Krone der Wände von Laliders, und davon leitete ich auch die Namen ab, welche ich, in Ermangelung [S. 805] bereits vorhandener, denselben zuwies: der breite, langgestreckte erhielt die Benennung Laliderer Wand, die Pyramide daneben Laliderer Spitz.
Auf beiden Gipfeln gelang es mir, ziemlich günstige Beobachtungs und Aussichtsmomente abzupassen, während die Perioden der Nebelverhüllung und der Schneestürme zur Wanderung von einem auf den anderen hinüber benutzt wurden. Vom Dreizinkenspitz auf die Laliderer Wand hinüber benötigte ich eine Stunde, von dort bis auf den Laliderer Spitz noch etwas weniger.
Mit den verschiedenen Gipfelbesuchen und dem Aufenthalte auf den Kulminationspunkten war es bereits ein Uhr nachmittags geworden, als ich zum letzten, langen Marsche durch die Hochzone des Roßkars und zur letzten, zugleich bedenklichsten Ersteigung dieses Tages mich anschickte. Von dem steil gegen Westen abfallenden Laliderer Spitz blickte ich über die lange, fast ebene Gratstrecke hinweg, auf welcher turmartig ein paar schroffe, sonst aber nicht sehr bedeutende Zacken fußen, deren östlicher noch eine Gruppe der wunderlichsten Felsgebilde neben sich führt, die ,,Steinernen Männchen", etwa fünf bis sechs Meter hohe, schlanke Säulen und Nadeln, auf einem Riffe stehend, welches aus den Wänden von Laliders ein wenig hervortritt. Die beiden turmartigen Zacken stehen gleichfalls unmittelbar über den Laliderer Wänden und auch von der langen, horizontalen Gratstrecke zwischen ihnen, welcher ich den Namen ,,Langer Sattel" beilegte, beginnt unmittelbar der riesige Absturz gegen Norden, während von Süden herauf flaches Schuttfeld bis auf den Gebirgsscheitel reicht.
Die Zacken auf dem ,,Langen Sattel" vermochten mich nicht zu reizen; es sind zwar sehr scharfe, kühne Mauerzinnen, wahrscheinlich sogar unersteiglich, indes von so untergeordneter Bedeutung als Gipfel, daß ich mich durchaus nicht berufen fühlen konnte, diese Unersteiglichkeit auf die Probe zu stellen. Anders verhielt es sich mit dem letzten der Gipfel im nördlichen Roßloch-Kamme: der krumme Kegel, welcher sich dort emporschwingt, fällt - auch von der Ferne gesehen - als ansehnlicher Gipfel in die Augen, er tritt in Rivalität mit fast allen übrigen Zinnen des Roßlochs, und obwohl dem höheren Sonnenspitz ziemlich nahe stehend, behauptet er doch eine gewissermaßen selbständige Stellung. Auf ihn hatte auch der Jäger im fürstlichen Jagdhause mich hingewiesen; er meinte, wenn ich denn durchaus auf alle Spitzen müsse, so solle ich es nur einmal auch mit jenem im Bockkar versuchen. Vielleicht erwartete er einen Freundschaftsdienst von ihm!
Einladend sah er nun eben nicht aus. Ein allseitig mauerschroffer, gelb-rötlicher Turm und inmitten seiner Ostkante, welche augenscheinlich die einzige Möglichkeit eines Zuganges gewährte, ein sehr frisch aussehender Abbruch, just an der allersteilsten Stelle. Es war mir lieb, daß diese Aufgabe zum Schlusse des Tages an mich herantrat; auch bei größter und unausgesetztester Übung in der Behandlung der Felsengipfel und ihrer Launen macht sich bis zu einem gewissen Grade doch ein regelmäßiges Schwanken in Gewandtheit und Selbstvertrauen geltend; es ist am geringsten am Beginne des Tagewerkes und erreicht erst im Verlaufe desselben seinen Normalstand oder einen noch höheren - und [S. 806] ich habe stets gefunden, daß heikle Passagen am besten bewältigt werden, wenn bereits einige Ermüdung sich fühlbar macht, die Hast der frischen Kräfte abgestumpft und eine gewisse Gleichgültigkeit an Stelle der unruhigen Erwägungen und Erwartungen getreten ist.
So verließ ich denn auch diesmal den Laliderer Spitz ziemlich kühlen Blutes, zunächst froh, daß die nächste Stunde mir müheloses Dahinschlendern über fast ebenen Schutt und Plattenboden gestatten sollte, und wenig darum bekümmert, was dann folgen würde. Um die Hochterrasse des Roßkars zu erreichen, hatte ich vom Laliderer Spitz ziemlich weit rückwärts zu gehen, stieg dann über schwach begraste Felsstufen ab und verfolgte nun meinen Weg in unverändert gerader Linie gegen Westen. Langsam sah ich die Steinernen Männchen, die beiden Turmzacken auf dem Langen Sattel zu meiner Rechten vorüberziehen. Der hügelige Boden des Roßkars erhebt sich auf dieser Strecke in zwei ausgesprochenen, wenngleich nicht sehr hohen Terrainwellen, welche weiter abwärts zu flachen Terrassenscheiteln. sich ausbreiten und steil gegen den Talboden des inneren Roßlochs abfallen, während sie eine ziemlich tiefe, großenteils bewachsene Talmulde zwischen sich schließen. Nach Überschreitung der zweiten dieser Terrainwellen sah ich vor mir die letzte, westliche Mulde der ausgedehnten Hochterrasse des Roßkars sich ausbreiten, welche unter den Mauern des Bockkarspitz an den Fuß des Sonnenspitzes sich hinanzieht; es ist das ,,Sonnenkar" der Generalstabskarte, den Jägern des Hinterautals dagegen unter dem Namen ,,Bockkarl" bekannt.
Im losen Felsschutte einer breiten, flachen Sinke stieg ich wieder gegen den Grat hinan; es war einhalb drei Uhr, als ich neuerdings auf diesem anlangte, in der Scharte zwischen dem Bockkarspitz und dem westlichen der beiden Türme auf dem Langen Sattel. Und wieder blickte ich über die schwarzen Wände hinunter auf die grünende Tiefe der Laliderer Alpe und auf das Ladizer Jöchl, und auf die Falken hinüber, deren blanke Felsenkuppeln noch im Sonnenstrahle glänzten, während über den Wall der Sonnenspitzen herüber schon wieder schwarzes Gewölke und Schneesturm ins Roßkar sich hereinwälzte. Das gesamte Gepäck blieb auf der Scharte zurück; die Eisen wurden festgeschnallt, der Bergstock, welcher in der letzten Stunde kaum mehr mit dem Boden in Berührung gekommen war, wieder scharf gefaßt; dann ging's aufwärts.
Zunächst war eine stark geneigte Fläche lockeren, bei jedem Schritte weichen-den Gesplitters zu bewältigen. Bald hatte ich den Fuß des eigentlichen Felsbaues erreicht und schon fühlte auch das Eisen wieder die unter dünner Geröllschicht lagernden, tückischen Platten. Ihre lotrechten oder gar überhängig ausgebauchten Abbrüche gestatteten nur an wenig Stellen ein Emporklimmen auf schmalen Tritten; die vorspringenden, zum Festhalten geeignet erscheinenden Auszackungen des Gesteins lüsten sich meist schon bei bloßer Berührung ab und ich hatte mich ängstlich davor zu wahren, daß solch ein abbrechendes Stück nicht mit dem eigenen Körper in unangenehme Kollision komme.
Nach einer Viertelstunde schon gelangte ich an die verdächtige und in der Tat' auch sehr bedenkliche Stelle: Die Kante erhebt sich hier fast senkrecht, [S. 806] links von ihr zeigt das Gemäuer einen augenscheinlich noch ziemlich frischen Ausbruch rötlichgelber Felsmasse, blanke Plattenschuppen - kaum von einzelnen Ritzen durchzogen - reihen sich zu querlaufenden Bändern aneinander, jäh und stufenlos steigen über ihnen die nächsten Wandabsätze empor; den wenigen aus ihrer festen Masse vorragenden Splittern und Ecken ist die Haltlosigkeit auf den ersten Blick anzusehen. Im Anstiege erschien mir das gerade Erklettern des etwa acht Meter hohen Abbruches als das einfachste und zweckmäßigste Mittel, und es gelang auch, obwohl nur mit größter Anstrengung und mit der Gewißheit, diese Stelle im Rückweg nicht mehr passieren zu können; denn die Steile ist so enorm, daß man den Platz, auf welchen der Fuß tritt, nicht mehr zu sehen' vermag, die Hände stets vollauf zu tun haben, am unzuverlässigen Fels nach ,Unebenheiten zu haschen, diese auf ihre Haltbarkeit zu prüfen und doch rasch eine Wahl zu treffen, - denn auch der eiserne Tritt lockert sich mit jeder Viertelsekunde; und ein einziges Weichen des jeweiligen Stützpunktes muß den verwegenen Kletterer unfehlbar über die schmale Zackenmauer hinausschleudern, wobei es dann ziemlich gleichgültig ist, ob er turmtief ins Bockkar oder zehnfach so tief über die Laliderer Wand hinabstürzt. Es war eine der schlimmsten, bedenklichsten Stellen, denen ich im Karwendel-Gebirge begegnete. Die Schwindelprobe aber, welche unmittelbar daran sich reihte, übertraf geradezu alles bis dahin Geschehene.
Kaum hatte ich den Steilabbruch hinter mir und die Schrofen der nächsten Kantenabstufung überstiegen, da fand ich mich vor eine etwa vier Schritte lange, horizontale Gratstrecke gestellt, die gleichsam als Brücke zur neuerlichen Hebung der Gipfelkante sich hinüberzieht. Die Breite der Schneide beträgt kaum zwei Zoll; links schießt ein jähes Platt ab, bald in den Steilabsturz zum Bockkar übergehend, rechts stürzt die Laliderer Wand senkrecht auf den grünen Talgrund hinunter. Hier zeigte sich so recht handgreiflich die Macht der im Verlaufe eines anstrengenden Hochgebirgsmarsches gewonnenen Vertrautheit und Gleichgültigkeit ich hätte niederhocken und über diese Stelle hinwegrutschen können, - und wäre der Bockkarspitz der erste Gipfel dieses Tages gewesen, so hätte ich dies sicher und mit verhaltenem Atem getan. Jetzt erschien mir's nicht mehr der Mühe wert: ich hackte die Eisen auf der Kante ein, schaukelte den Bergstock in der rechten Hand und schritt über den luftigen Steg hinweg; und ich konnte mich nachmals nicht entsinnen, sonderlich viel dabei gedacht. zu haben.
Jenseits begann wieder das Aufklimmen über steile Plattenschrofen, meist auf der Kante selbst; diese letzte Strecke war, wenngleich ziemlich schwierig, doch ohne besonders hervorragende Hindernisse. Der Gipfel selbst, das nach einer halben Stunde schwer errungene Ziel, besteht aus einer äußerst schmalen, aus mehreren Zacken zusammengesetzten Schneide von sechs bis acht Schritten Länge. Die Höhe des Bockkarspitz ist etwas geringer als die der Laliderer Wand und dürfte auf ca. 2600. Meter veranschlagt werden287.
Die Aussicht, welche eine kurze Spanne Zeit bis zum Hereinbrechen neuer Wolkenumhüllung und neuen Schneesturms mir noch zu beobachten gestattete, [S. 808] hatte sich lediglich gegen Nordwesten etwas verändert, wo sich nunmehr auch der tiefe Einblick in den Talkessel von Ladiz eröffnet hatte und durch den Aufschluß des Johannestales auch einige Berge jenseits der Riß sichtbar wurden. Gegen Westen sperrte die gewaltige Mauer der Sonnenspitzen jeden Ausblick, gab mir aber dafür Gelegenheit, die Terrainverhältnisse auf ihrem Gratscheitel aufs genaueste zu studieren und die seinerzeitige Übergangslinie vom Südlichen auf den Nördlichen Sonnenspitz, den Wartturm von Ladiz, festzustellen288. Einen imposanten Eindruck machte hier, in unmittelbarer Nähe, dieser letztere mit seinem flachen Kuppenscheitel und seinem riesigen senkrechten Nordabsturze, aus welchem in einiger Tiefe unter dem Grat ein abgetrennter, fingerförmig gekrümmter Felsenzahn von der Größe eines mäßigen Kirchturmes, stündlich dem Einsturz drohend, herausragt.
Wieder brachen die Wolken über die Felsengrate herein, brodelten aus unergründlichen Tiefen empor, wieder heulte der Sturm um meine Felsenzinne und trieb Riesel und Schneeflocken in wirrem Tanze um ihr verwettertes Haupt. Genug für heute!
Zurück, und vor allem wieder hinab auf den sicheren Schuttboden des Roßkars! - Ob das auch gelingt? -
Und es gelang, wie so vieles vor-, so vieles nachher. Den jähen Abbruch der Kante umging ich diesmal in kurzem Bogen nach der Südseite, wobei auch die schmale Felsenbrücke bei Seite blieb; die Passage an den fast völlig haltlosen Plattenwänden hin war kaum weniger bedenklich, für den Abstieg aber geeigneter, als der Heraufweg.
Gegen vier Uhr hatte ich mit dem widerhaarigen Gesellen, der den Namen Bockkarspitz behalten soll, endgültig abgerechnet und nahm an der Scharte, welche man als die Bockkar-Scharte bezeichnen kann, mein Gepäck wieder auf.
Zur Rückkehr nach dem Birschhäuschen wählte ich - statt des weiten Bogens in die Mitte des Roßkars zurück und von dort auf der Spur meiner Morgenwanderung hinunter - den geraden Abstieg durch das Bockkar; es führt hier ein neuer, schön angelegter Jagdsteig, dessen Anfang freilich hier oben, in der unbegrenzten Schuttwüste, erst gesucht sein wollte. Im geraden Marsche über die sauftgeneigten Geröllfelder, dann über schwach begrünte Plattenhügel, aus welchen hier und da ein plattwandiger Terrassenabsatz vorspringt, gelangte ich bald an die ersten Anfänge der Krummholzregion. Ich bemerkte hier, jenseits einer Felsrunse, eine nach dem Schuttboden hart am Fuße der Sonnenspitzwände hinlaufende Pfadspur, wußte aber wohl, daß ich nach jener Seite hinüber nichts zu suchen habe, und lugte scharf gegen links aus. Auch hier zeigten sich sehr schwache Wegspuren, und jenseits eines ziemlich bedeutenden, das Berggehänge durchsetzenden glatten Wandabsturzes wieder bewachsener Boden - augenscheinlich die Krummholzfläche, welche bis zur Talsohle, auf welcher das Birschhaus steht, sich hinabstreckt. Ich lavierte daher dort hinüber und fand an der etwas verdächtigen Plattenwand zu meinem Vergnügen eine vollständige künstliche Weganlage, durch eingehauene Tritte und quer über- [S. 809] gelegte, mit Rasen bedeckte Stangen hergestellt; freilich waren, wie dies regelmäßig der Fall zu sein pflegt, die hier von der Natur gebotenen Haltpunkte genügend, um auch ohne solche Anlage den Übergang zu gestatten. Jenseits schlängelte sich der nunmehr sehr deutliche Pfad auf steinigem Grasboden zu einem grünen Terrassenabsatze empor und trat von diesem in die jenseitige Einbuchtung des Berggehänges über. In langen Serpentinen zog er sich dann zutal, bald über Wiesplätze, bald an rauhem, schrofigem Gehänge hin, meist aber durch hohe Legföhrendickung, deren reicher Vorrat an großen blauen Heidelbeeren als erwünschtes Supplement des kargen, in Aussicht gestellten Abendmahles noch gehörig ausgenutzt wurde und mich erst nach sechs Uhr an das Ufer des Roßkarbaches und zum Birschhäuschen zurückkehren ließ. Bei ununterbrochenem Marsche könnte letzteres von der Bockkarscharte aus in eineinhalb Stunden leicht erreicht werden.
Bald waren die Vorbereitungen zur zweiten Nacht im Roßloch getroffen; zum warmen Kaffee wurde ein Teil des noch übrigen Brotes verzehrt, und allzu frühe mußte dem Appetite Einhalt getan werden, um auch für den kommenden Morgen noch etwas übrig zu behalten. Durch die Erfahrung der verflossenen Nacht belehrt, verzichtete ich diesmal völlig auf ein Bett, schürte dafür auf dem Herde ein tüchtiges Feuer an, welchem ein von außen hereingeschleppter, mächtiger Legföhrenstamm für die ganze Nacht Nahrung zu geben versprach, und setzte mich hart daneben hin. Der Sonnenglanz, welchen die letzte Abendstunde ins Tal hereinsandte, war auf den bleichen Häuptern seiner Felsumwallung bald erloschen; Dämmerung und Dunkel senkt sich nieder, draußen rauscht der Bach, drinnen knistert und prasselt ein lustiges Feuer, und der es emsig schürt und dabei kauert, wie ein den Grüften des Gebirges entstiegener Erdgeist - dem die Zinnen der Laliderer Wände heute vergebens die Zähne gewiesen und der morgen mit ihrem noch ungebändigten Gegenüber sich zu messen gedenkt - er kennt für jetzt keine andere Sorge und keinen anderen Gedanken, als daß es ihm recht warm werde, und wie gut eine Pfanne Schmarrn schmecken werde am nächsten Abend - vorausgesetzt, daß er ihn erlebt.